Donnerstag, 5. November 2009

'Organische Verlogenheit'

„Neben dem bewußten Lügen und Fälschen gibt es noch das, was ‘organische Verlogenheit’ zu nennen ist. Hier erfolgt die Fälschung nicht im Bewußtsein, wie bei der gewöhnlichen Lüge, sondern auf dem Wege der Erlebnisse zum Bewußtsein, also in der Art der Bildungsweise der Vorstellungen und des Werte-fühlens. ‘Organische Verlogenheit’ ist überall da gegeben, wo den Menschen nur einfällt, was ihrem ‘Interesse’ oder was irgendeiner Einstellung der triebhaften Aufmerksamkeit dient und schon im Prozesse der Reproduktion und des Erinnerns in dieser Richtung inhaltlich modifiziert wird. Wer ‘verlogen’ ist, braucht nicht mehr zu lügen! Was beim konstitutiv Ehrlichen die bewußte Fälschung leistet, das leistet bei ihm schon der tendenziöse unwillkürliche Automatismus der Erinnerungs-, der Vorstellungs- und Gefühlsbildung. An der Bewußtseinsperipherie kann kann dabei die biederste, ehrlichste Gesinnung herrschen.
(Max Scheler, Das Ressentiment im Aufbau der Moralen, Frankfurt/M. 1978, S. 33 )

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