Samstag, 12. Juli 2008

The night they murdered love

Heute vor genau 29 Jahren trafen sich einige zehntausend fröhlicher junger Menschen in einem Baseball-Stadion in Chicago um nach dem Spiel der Chicago White Sox gegen die Detroit Tigers gemeinsam und ganz gemütlich ihre Disco-Platten auf dem Spielfeld zu verbrennen. Bei Wikipedia gibt es einen einigermaßen ausführlichen Artikel über die Nacht der heiligen Rock-Inquisition und ab Seite 373 von Tim Lawrences „History of American Dance Music Culture“, die als Buch den schönen Titel „Love saves The Day“ trägt, noch zusätzliche Informationen über die rassistischen und homophoben Hintergründe dieser fragwürdigen Varanstaltung, die von dem Radio-DJ Jeff Dahl organisiert wurde.
Gottseidank hat Disco sich von diesem Alptraum sehr gut erholt!

20 Kommentare:

Steven Bascom hat gesagt…

Hmm...die Links funktionieren leider nicht.

Buscón hat gesagt…

Doch..ab jetzt!

R. R. R. hat gesagt…

Es blutet mein musik- und vinylliebendes Herz. Und das ist gerade mal 29 Jahre her?
Danke für den Erinnerungseintrag.

Buscón hat gesagt…

...danke Euch fürs Feedback! Es ist auch geradezu grotesk, dass in den USA sich damals scheinbar niemand über den Symbolgehalt (Auto da fe/Inquisition - Bücherverbrennung/III. Reich) so einer Veranstaltung Gedanken gemacht hat.

Steven Bascom hat gesagt…

Auf Youtube findet sich zudem ein Video, wo ein Reporter den verschmitzt lächelnden Jeff Dahl zum 25. Jahrestag interviewt und ihm sozusagen zum Geburtstag "gratuliert". Das ganze stellt sich als eine Art liebenswerter Dumme-Jungen-Streich aus früheren Tagen dar, den man im Alter gerne mal als unterhaltsame Anekdote zum Besten gibt. Unglaublich.

Stitch hat gesagt…

...warum um Himmels Willen in den Vereinigten Staaten des Jahres 1979 jemand eine Verbindung zur Bücherverbrennung des dritten Reiches herstellen sollte, erschliesst sich mir nicht. McCarthy hat Bücher verbrennen lassen, Wilhelm Reichs Schriften wurden von der FDA verbrannt, es gab haufenweise den Werken von so unterschiedlichen Menschen wie Charles Darwin oder Joanne K. Rowling gewidmete "book-burning"-Gotesdienste. Die Assoziation mit den Aktionen der Nationalsozialisten ist eine europäische, vor allem deutsche Spezialität, die sich nun mal nicht einfach auf andere Gesellschaften übertragen lässt, die eine eigene Geschichte und von daher auch eigene Wahrnehmung haben.

_| hat gesagt…

der jeff dahl?
der mal den angry samoans die stimme lieh und später auch im us-punk-underground rührig war?
als punkrock-geste mir aber deswegen nicht gänzlich unsympathisch (obwohl: die schönen platten!),aber dann auch nicht im stadion sondern vorm punkschuppen umme ecke,und auch nur 1977-79,damals war disco in amerikanischen durchschnittspunkeraugen eben die musik des feindes,die weniger stumpfen engländer haben das dann etwas anders gesehen,siehe the clash -rock the casbah- und damned's captain sensible und ian dury usw.

_| hat gesagt…

na,sollte vorher die links aufrufen bevor ich kommentiere: doch kein jeff dahl,auch keine punkrocker sondern bierselige us-mainstreamrockhörer weisser hautfarbe.
knilche!

Buscón hat gesagt…
Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.
Buscón hat gesagt…

Inquisition, Nazi-Bücherverbrennung und die Veranstaltung im Comiskey Park sind tendenziell sicherlich nicht vergleichbar und ein Disco-Hasser ist automatisch noch lange kein Torquemada oder Nazi. Eine Prise Hass kann in homöopathischen Dosen ja auch ganz angenehm sein. Den Symbolgehalt und die infantil-regressiven Züge solch einer Aktion darf man sich trotzdem mal genauer anschauen. Bedenklich ist auch gar nicht so sehr, daß dort wertvollstes Vinyl in die Luft gesprengt wurde. Gruselig ist diese medial gesteuerte Inszenierung scheinbar spontan-fröhlicher kollektiver Empörung gegen eine bestimmte Branche der Kulturindustrie, die sich damals halt gerade an einer stärkeren Konjunktur erfreuen durfte als der bürgerliche Rock, den Dahl senden mochte. Diese Konstellation dann unter moralischen Gesichtspunkten (Disco = oberflächlich, promisk, konformistisch, billig) auszuschlachten, wie es eben im Zuge von Dahls Kampagne getan wurde, ist bizarr. Das Ausschlachten hat allerdings damals seine Wirkung getan. Die habe ich in der westdeutschen Kleinstadt am Rande des Sauerlandes ganz deutlich gespürt, denn ich erinnere mich noch gut an Abende anno '81 mit Freunden, wo ich eine Grace Jones-Platte vorspielen wollte und ein Aufschrei der Empörung durch die jasminteetrinkende Runde brandete: "...mach sofort den billigen Disco-Scheiß aus und leg mal Degenhard oder die Bots auf!" Also soziale Ächtung in vollem Effekt und dabei waren Sly & Robbie nun wirklich bessere Musiker als die Bots. By the way: wenn man sich klassische Disko-Produktionen auf Salsoul, Westend oder P & P anhört, ist nicht einzusehen, warum die nun primitiver, oberflächlicher oder billiger sein sollten als eine Nummer von den Stones, Emerson, Lake & Palmer oder Eric Clapton? Außerdem sind Disco und Punk Geschwister, wie wir doch neulich bei DJ Harvey gelernt haben und der größte Punk war eh Arthur Russel...

Stitch hat gesagt…

Inwiefern Rock 1979 per se "bürgerlich" war, darüber sollte man auch nochmal diskutieren. Der Punkrock-Einwurf ist da sicher nicht so ganz verkehrt.

Was es aus dem Rock-Lager gegen Disco zu sagen gab, kann man sehr schön bei Zappas "Disco Boy" finden. Das muss man nicht teilen, ist schon klar. Aber wenn man das verstehen will, sollte man sich diese Seite auch angucken. Oder einmal in die großartige von Judd Apatow produzierte Serie "Freaks & Geeks" hereinschauen, die eine Jugend im Illinois um 1980 herum zum Thema hat.

Und die Anekdote aus dem Sauerland anno 1981 gehört wohl auch dahin, no offense, please. Der Antagonismus Grace Jones vs. Degenhardt (um Gottes Willen!!) bzw. Bots (um Gottes Willen!!!) ist nun wirklich lächerlich und bedarf hoffentlich keines weiteren Kommentares. Warum das dann allerdings wieder mit "x ist ein besserer Musiker als y" kommentiert werden musste, versteh ich nun wieder nicht. Wenn wir aus genau dieser Zeit irgendwas gelernt haben, dann doch wohl, dass es nicht alleine um musikalische Skills gehen kann...klassische Disco-Produktionen waren darüber hinaus immer Produzenten- und Arrangeure-Musik, keine Musiker-Musik.

Jugend- und Subkulturen waren im übrigen schon immer und werden wohl auch immer abgrenzend und ablehnend sein. Die Rocker gegen Disco, die Mods gegen die Rocker, Punks gegen Teds, Skins gegen Punks, Grufties gegen das Leben, Rapper gegen was-weiss-ich, und so weiter. Und es ist mir dann doch irgendwie lieber, es werden Discoplatten verbrannt als dass Discotänzer gejagt und verprügelt werden. Oder schlimmeres.

Buscón hat gesagt…

...die Anekdote sollte ja auch nur veranschaulichen, dass das begriffliche Inventar und die Werteskala des Anti-Disco-Diskurses auch im Teenie-Alltag einer westdeutschen Kleinstadt eine ziemliche Rolle gespielt haben und keineswegs ein spezifisch nordamerikanisches Phänomen waren.

Stitch hat gesagt…

...hab ich auch so verstanden, wollte nur auf die Diskrepanz hinweisen, die darin zum Ausdruck kam.

Eine Randbemerkung: Dahl ist mir darüber hinaus eigentlich egal, aber die Haltung, die Rock gegenüber Disco hatte, ist doch durchaus auch ohne "medial gesteuerte Inszenierung" noch retrospektiv verstehbar. Da geht es eben doch nicht allein um die "stärkere Konjunktur" des einen Bereichs, hier spielen Generations-, Rassen- und ideologische Aspekte eine Rolle.

Noch eine Randbemerkung: Den Niedergang von Disco habe ich immer als allererstes aus ökonomischer Unmöglichkeit heraus verstanden: diese Produktionen mit all den Streichern, Bläsern, Percussionisten waren unheimlich teuer (von wem war noch dieses schöne Bonmot von den zu bedauernden Drummern bei Disco-Produktionen, die ohne damals noch nixht existierenden Clicktrack zehn bis 15 Minuten lang konstant stur die Bassdrum spielen und dabei unbedingt das Tempo halten mussten?), das rentierte sich irgendwann einfach nicht. Dazu noch die Übersättigung des Marktes, etc. Eigentlich alles, was die Musikindustrie auch in den letzten Jahren zum wiederholten Male erlebt hat und was sie immer noch nicht ansatzweise verstanden hat.

Noch eine letzte Randbemerkung: das Betrauern von Vinyl, was auch hier in den Kommentaren zum Ausdruck kommt, wird mir immer fremder. Mir kommt das immer so vor, als finde da förmlich eine Fetischisierung eines Tonträgerformats statt, wo es doch dem "Musikfreund" um die Musik und nicht das Trägermaterial oder -format gehen müsste.

Buscón hat gesagt…
Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.
Buscón hat gesagt…

...ich habe lange geforscht, dasss Ergebnis ist eindeutig: Vinyl schmeckt einfach besser!

_| hat gesagt…

hmm lecker!
zum dessert fetisch buch,warum noch geld für die schwarten ausgeben?
dürfte ich,gesellschaftlich an den rand gedrückter,vinylliebhaber ("wie platten?hab doch super viel musik auf dem iphonepod,kannste mal einstöpseln?") dann nicht auch mit gleichem recht verlangen (von denen,die dem verschwinden eines so tollen kulturträgers wie der schallplatte applaudieren),daß die leute auch gefälligst damit anfangen,alle literatur,zeitungen usw auf dem laptop zu lesen und auch noch aufs autofahren,bitteschön,zu verzichten (und fliegen?geht gar nicht,ist ja voll 20. jahrhundert)?
und was dürfte ein download der proustschen werke dann kosten,5 €?
eigentlich schon zuviel,die dreibändige dünndruckausgabe aus den späten 60ern rockt besser,und so ist das halt auch mit dem vinyl...

Stitch hat gesagt…

"gesellschaftlich an den Rand gedrückt"? Na, da überschätzen wir uns aber ganz schön...der Gesellschaft dürfte es schietegal sein, aus welchem Material deine Tonträger sind. Ausserdem habe ich weder "applaudiert" noch von Dir im speziellen oder Vinylliebhabern im allgemeinen irgendetwas "verlangt", sondern lediglich (rand-)angemerkt, dass das Trägermaterial prinzipiell doch keine Rolle spielt. Ja ich weiss, "Vinyl klingt besser". Dieser Vorteil fällt bei der heutigen Produktionsweise von nicht-klassischer Musik aber eh unter den Tisch, mittlerweile ja selbst im Jazz-Bereich. Bei mir stehen im übrigen daheim auch noch ein paar tausend Vinyle rum.

Literatur und vor allem Zeitungen im digitalen Datenformat haben im übrigen natürlich einige Vorteile. Und wenn eine bestimmte kritische Anzahl an Leuten von diesen überzeugt sind und sich Zeitungs- oder Buchdruck ab diesem Punkt ökonomisch nicht mehr rechnen, dann stirbt das eben aus. So what? Nennt sich Marktwirtschaft, funktioniert ganz gut.

Anonym hat gesagt…

hatte die anführungszeiten vergessen,"an den rand gedrückt".
kein problem hätte ich,wenn es nur drei sorten herrenunterhosen gäbe in einer wünschenswerten post-marktwirtschaftlichen gesellschaftsordnung.
funktioniert nämlich eher nicht,die momentane,in meinen entzündeten augen,hehe...
ein paar tausend?
mhmm,
dz

(gruß an chesney

Buscón hat gesagt…

...mein bisheriges Fazit zu unserer kleinen Debatte: die Glut unter den Vinyl-Scheiterhaufen des Comiskey Park scheint noch lange nicht erloschen zu sein!

Stitch hat gesagt…

Ein Paar tausend. Vielleicht auch nur anderthalb Paar tausend. Hab noch nie wirklich gezählt. Will aber auf Dauer einiges lowerden, bei Interesse gerne an mich wenden. ;o)

Das Wirtschaftsordnungsdiskussionsfass mach ich jetzt nicht auf, das führt zu weit. Einigen wir uns darauf, dass wir uns darin nicht einig sind.